KABALE UND LIEBE aus

G.Lessings „Hamburgische Dramaturgie“

 

Das »bürgerliche Trauerspiel«, wir sagten es schon, schließt sich

enger an den Beginn, an die >Räuber<, als das »republikanische« von

der >Verschwörung des Fiesco<. Dieses Urteil nimmt sich, wenn man

die gattungsbezeichnenden Attribute »bürgerlich« und »republika-

nisch« nebeneinanderstehen sieht, recht paradox aus. Was es mit dem

republikanischen Wesen in der Frühzeit Schillers auf sich hat, das

wurde im vorigen Kapitel erörtert. Die Kennzeichnung »bürgerlich«

sagt uns Heutigen im ersten Augenblick mehr, als die Bestimmung

»republikanisch« es vermag. Aber so ziemlich alle Gedankenver-

bindungen, die uns heute das Wort »bürgerlich« zufliegen läßt, führen

an dem Sachverhalt, der >Kabale und Liebe< angeht, vorbei und in

die Irre. Wir müssen uns also darum bemühen, die Vokabel in der

Bedeutung zu vernehmen, die sie in der Dramaturgie des 18. Jahr-

hunderts hatte. Dazu hilft das Beispiel, das Lessing auf doppelte

Weise, als Dramaturg und als Dramatiker, liefert. Im 14. Stück der

Hamburgischen Dramaturgie gibt er ausdrücklich an, wie die Kenn-

zeichnung »bürgerlich« zu nehmen ist: dort zitiert er, was J. F. Mar-

montel in seiner >Poetique francaise<l über das erste Trauerspiel dieser

Art, den >Kaufmann von London< von dem Engländer Lillo, sagt.

Der erste Satz von Lessings Zitat aus Marmontel »Man tut dem

menschlichen Herzen unrecht, man verkennt die Natur, wenn man

glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren« ent-

hält bereits das Wesentliche von Marmontels Begriffsbestimmung:

 

»bürgerlich« meint die Herauslösung des Tragischen aus den gesell-

schaftlichen Erscheinungsformen, in denen es bisher aufgetreten war,

also aus dem Bereich der Könige, der Fürsten, der Granden über-

haupt. Es geht also genau um das Gegenteil dessen, was uns heute

das Wort »bürgerlich« aufdrängt, nämlich gerade um die Überwin-

dung einer sozial-ständischen Perspektive. Eine solche war vordem

allerdings, etwa in der tragedie classique, vom Hof und Adel aus-

gegangen. Das Elementare oder, wie man heute gern sagt, das Existen-

tielle des menschlichen Daseins soll im Blickpunkt dieser neuen Art

von Trauerspiel stehen. »Bürgerliches Trauerspiel« meint also ge-

wissermaßen eine tragedie pure: Lessing hält das Absehen von den

»Titeln«, genauer gesagt von »Rang, Geschlechtsname, Geburt des

Unglücklichen« (Marmontel), für eine Intensivierung: »Das Unglück

derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß

natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen«, »ein Staat ist

ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.«  Was wir

heute »bürgerlich« nennen, erscheint — unausgesprochen, von Lessing

unbeabsichtigt — nur am Rande. Dort freilich als Orientierungspunkt

seines Urteils: »wir«, »unsere Empfindungen« — dieser Plural faßt die

Zuschauer und die Kritiker ein, die Liebhaber und die Kenner dra-

matischer Dichtung. Sie alle gehörten im Hamburg der Dramaturgie

— und nicht nur dort — nicht mehr dem Adelsstand, nicht mehr dei

höfischen Welt an.

 

Möglichkelten des bürgerlichen Trauerspiels

 

In den beiden bürgerlichen Trauerspielen Lessings, Miß Sara

Sampsom und >Emilia Galotti<, sind wie in Wagners Kindsmörderin

Mädchen bürgerlichen Standes die Hauptfiguren. Auch Schiller nannte

ja sein Stück >Luise Millerin<. Dieser Sachverhalt darf also nahezu

als typisch gelten, und dies leuchtet auch ein: unter den elementari-

schen Möglichkeiten des Tragischen, wie sie Marmontel fordert, steht

die Liebe vornean. Als allgemein-menschlich wird auch gelten müssen

daß die Liebende, angefangen von Vergils Dido, größeren Einsät;

leistet, größere Gefahr läuft als der liebende Mann. Hieraus ergibt

sich die Möglichkeit, daß sich die »reine« Tragik mit einem sozial-

ständischen Element vermischen kann. So vermag die Tragödie de;

verführten Mädchens polemischen Sinn zu gewinnen: der tragisch

Konflikt entsteht weniger durch die Liebe an und für sich als durch

den Standesunterschied der Liebenden. Derart verhält es sich in der

bürgerlichen Trauerspielen Wagners, Lenzens und des Freiherrn von

Gemmingen. Lessing hingegen läßt die sozial-kritische Beimengung,

seinem Begriff vom bürgerlichen Trauerspiel entsprechend, in seinem

älteren Stuck — >Miß Sara Sampson< — ganz beiseite. Dieses steht

allein unter dem menschlich-moralischen Gesichtspunkt: weibliche

Schväche und Verführbarkeit, Kindesr und Vaterliebe, Unaufrichtig-

keit des Verführers, Rachgier der eifersüchtigen Rivalin. Menschliche

Leidenschaften also in ihrer allgemeinsten Form und mannigfachen

Verblendung verstricken sich zum tragischen Gewebe. Später, in der

>Emilia Galotti<, ist in den dramatischen Konflikt zugleich der Ge-

gensatz von Ständen einbezogen. Aber in Marinelli und dem Prinzen

einerseits, in Odoardo und Appiani andererseits stehen einander doch

eher weichlich-genußsüchtiges Laster und »rauhe« Tugend entgegen

als soziale La.ger. Als Stand erscheint deutlich ausgeprägt nur der

Hof, Appiani ist Graf, und die Bürgerlichkeit des Odoardo tritt

mehr in seiner moralischen Qualifikation hervor als in seiner sozial-

ständischen. Jedenfalls gehören die Figuren, die Entschlüsse, die

Gesinnungen und ihr Ausdruck, endlich die Begebenheit selbst einer

heroischen Welt an. Lessings bürgerliches Trauerspiel verzichtet also

weder in der dichterischen Praxis, noch in der Theorie auf Größe.

(m Gegenteil, was er dem Corneille vorwirft 3, das trifft, mindestens

bis zu einem gewissen Grade, auf seine bürgerlichen Trauerspiele zu:

er beanstandet, daß Corneilles Streben nach Höhe und Außer-

ardentlichkeit auf Kosten der »Wahrheit« — damit meint Lessing die

Schlüssigkeit der Fabel — gehe.

 

Die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels, die Schiller vorfand  

sofern überhaupt von einer Gattung die Rede sein kann —, enthielt

ilso wenig an normativen Zügen. Ja, was um 1780 an Definition

iarüber formuliert, was an dichterischer Verwirklichung davon sicht-

>ar war, begünstigte vielmehr die Freiheit des Dichters: er sah sich

ür diese Form des Dramas vom Vers und auch von der strengen

Befolgung der Einheiten — mindestens was Zeit und Ort anging —

ptbunden. Das bürgerliche Trauerspiel erscheint denn als einer der

ersten Schritte zum »unregelmäßigen« Drama. Jedenfalls enthielt die

Vorstellung vom bürgerlichen Trauerspiel keinen Hinweis auf na-

turalistische Kleinmeisterei, auch nicht auf politische Aktualität:

 

Lessing und seinen Nachfolgern in dieser Art des Dramas ging es in

erster Linie, wenn nicht ausschließlich, um dichterische Wirkung, nicht

aber oder nur mittelbar um zeit- und sozialkritische Polemik. So, als

neuartige Erscheinungen dichterisch-künstlerischer Art, wurden Lessings

bürgerliche Trauerspiele und auch Schillers Beitrag zu dieser Gattung

von den Zeitgenossen verstanden. Bewundert man die revolutionäre

Kühnheit von >Kabale und Liebe<, als ob es sich um politische Mani-

festationen handelte, so kann sich eine solche Deutung auf hin-

reichende Zeugnisse im Wortlaut des Dramas berufen. Dennoch geht

sie nicht anders als im Falle der >Räuber< am Geist, am Wesen dieses

Trauerspiels, auch an der Absicht seines Dichters vorbei. Man sah die

politische Situation der dichterischen und literarischen Publizistik im

 

18. Jahrhundert allzu uneingeschränkt unter Gesichtspunkten, die

dem »Jungen Deutschland« und hernach dem liberalen Bürgertum des

 

19. Jahrhunderts die wichtigsten waren. Die Situation im 18. Jahr-

hundert war jedoch von der des Vormärz sehr verschieden: Kräftige

Äußerungen antimonarchistischer Polemik gab es seit etwa 1750 die

Menge, und sie wurden, möchte man sagen, anscheinend in aller

Harmlosigkeit getan und vernommen. Um einen Dichter wie Ramler

war niemals der Nimbus politischer Drauf gängerei: er schrieb 1761

ein Gedicht >An die Könige<, in dem die Monarchen als Kriegsstifter

aus Habgier und Machtsucht gebrandmarkt werden. Der königstreue

Offizier Ewald von Kleist setzte schon früher, spätestens vor seinem

Todesjahr 1759, die folgende Sdilußstrophe unter sein Gedicht Ein

Gemälde:                                    ,

 

Religion und Eid war ihm ein Puppenspiel.

Durch Labyrinthe ging er stets zum nahen Ziel,

Hurt' und verfolgte Wild ... 0 Maler, halt ein wenig,

Halt! ich versteh dich schon, das heißt: er war ein König.

 

Sein Mentor, der brave Gleim, der Verfasser der >Kriegslieder eines

preußischen Grenadiers<, fand daran nichts zu tadeln und zu ver-

stecken: Derlei wurde offenbar ohne weiteres gedruckt und anschei-

nend auch ohne große Erregung gelesen. Der Gleichgültigkeit gegen-

über der zeitgenössischen Literatur — denn so wird die scheinbar

liberale Praxis der damaligen Obrigkeiten 5 zu verstehen sein — stand

freilidi unversehens zupackende Willkür gegenüber: es gab den Fall

Schubart6 und nicht zuletzt den Schillers selbst. Weder in dem einen

Dichter noch im anderen sah Karl Eugen einen politischen Gegner.

Was ihn zum drakonischen Einschreiten veranlaßte, war die persön-

liche Beschwerde von einer ihm maßgeblichen Seite: er bestrafte nicht

die politische Polemik, sondern die schlechte Aufführung von Unter-

tanen, die er als »Landeskinder« sah. Im Übrigen hätte Schiller bei

allem Mut in der Lage, in der er sich nach der Flucht aus Stuttgart

befand, an eine Provokation politischer Art gar nicht denken können.

Andererseits zweifelte er nicht daran, daß der kurfürstliche Intendant

sein bürgerliches Trauerspiel aufführen werde. Wenn Dalberg zu-

nächst zögerte, so war daran keineswegs etwa politische Empfindlich-

keit des Barons schuld.

 

Der eschatologische Zug

 

Diese geschichtlichen Überlegungen waren nötig, wenn wir den

Weg Schillers von den >Räubern< zu den folgenden Dramen begleiten

wollen. Sie machen verständlich, daß es nach dem Erstling nicht

eigentlich eines neuen Ansatzes bedurfte, jedenfalls für >Kabale und

Liebe< weit weniger als für den >Fiesco<. Bemerkenswert ist darum

die Tatsache, daß der Dichter eine Zeitlang, und zwar gerade im

Stadium des Entwerfens, an beiden Dramen gleichzeitig arbeitete.

Blicken wir noch einmal auf >Emilia Galotti< zurück, so fällt das

Wesentliche in Schillers bürgerlichem Trauerspiel ins Auge: >Kabale

und Liebe< hat bei gleichem Spielraum des Stoffes eine Tiefendimen-

sion, die dem Lessingschen Stück und noch mehr denjenigen der

späteren Autoren abgeht. Dort sind nur Emilias Tugend, Odoardos

Unbeugsamkeit im Spiel. Hier geht es keineswegs nur um Vereinigung

oder Trennung des Paares, sondern um ein weit allgemeineres, über-

persönliches Ziel. Es ist Ferdinand selbst, der, von der Lady über die

Aussichtslosigkeit seiner Liebeswahl belehrt, den künftigen Fortgang

unter die Parole stellt:

 

»Meine Hoffnung steigt um so höher, je tiefer die Natur mit Konve-

nienzen zerfallen ist.—Mein Entschluß und das Vorurteil!—Wir wollen

sehen, ob die Mode oder die Menschheit auf dem Platz bleiben wird ...«

 

Es ist nicht das einzige Mal, daß Ferdinand sein Wagnis in diesem

Sinne versteht: er spricht nicht nur wieder und wieder Worte, die

den eben zitierten gleichen, sondern seine letzte Handlung — der

Tod, den er Luise und sich selber gibt — beruht auf solcher Sicht.

Wie in den >Räubern<, so geht es auch in >Kabale und Liebe< um die

große Probe darauf, ob es ein ewiges Sittengesetz gibt und ob es in

unwidersprechlicher Macht gilt. Der Schluß der >Räuber< gewinnt,

wie wir sahen, die merkwürdige Ausweitung und Erhöhung: er

mündet in die Überwirklichkeit des Jüngsten Gerichtes. Ausblick und

Hinweis darauf erfolgen in >Kabale und Liebe< von Anfang an in

großer Häufigkeit, selbst de? Präsident spricht (I, 7) vom »Donner

des Richters«. Der Ausgang kommt dem der >Räuber< sehr nahe:

 

Ferdinands Worte an den Vater enthalten eine feierliche Vorladung

»vor den Richter der Welt«, und in Wurms jäh ausbrechender Sinnes-

verwirrung, in seinem Ruf nach Justiz und Gerichtsdienern, im

Zusammenbruch des Präsidenten und seiner Selbstauslieferung (»Jetzt

euer Gefangener!«) scheint das so dringlich angerufene überirdische

Gericht jählings hienieden schon hereinzubrechen. Durch dieses bürger-

liche Trauerspiel geht also deutlich ein eschatologischer Zug, und allein

schon daran wird seine Eigentümlichkeit, seine Monumentalität sicht-

bar, durch die es sich von den vergleichbaren Dramen der Vorgänger

und Zeitgenossen abhebt.

 

Die Struktur des Dramas ist eher einfach als verwickelt, klar, aber

sehr dicht. In der einfachen Klarheit entspricht seine Anlage der-

jenigen der >Räuber<: Dem Liebesbund von Ferdinand und Luise liegt

ein schwärmerisches, aber durchaus ernsthaftes, ernstzunehmendes Be-

kenntnis zugrunde, das ebenso den persönlichen wie den erotischen

Bereich übersteigt. So sagt Ferdinand (I,4):

 

»Laß doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist, als der Riß zum unend-

lichen Weltall? oder mein Wappen gültiger, als die Handschrift des Himmels

in Luisens Augen: dieses Weib ist für diesen Mann?«

 

Luise variiert das gleiche Durchdrungensein von der »prästabilierten

Harmonie«, ja von der Prädestination ihrer Liebe mit Worten, die

Jean Pauls lyrische Verzücktheit vorweg zu nehmen scheinen:

 

»Als ich ihn das erste Mal sah — (rascher) und mir das Blut in die

 

Wangen stieg, froher jagten alle Pulse, jede Wallung spradi, jeder Atem

lispelte: er ist's! — und mein Herz den Immermangelnden erkannte,

bekräftigte: er ist's! — und wie das widerklang durch die ganze mit-

freuende Welt! Damals — o damals ging in meiner Seele der erste Mor-

gen auf! Tausend junge Gefühle schössen aus meinem Herzen wie die

Blumen aus dem Erdreich, wenn's Frühling wird. Idi sah keine Welt mehr,

und doch besinn' ich mich, daß sie niemals so schön war. Ich wußte von

keinem Gott mehr, und doch hatt' ich ihn nie so geliebt.« (I, 3)

 

So sind es denn auch »Haken der Hölle« — wie Luise zur Lady sagt

(IV, 7) —, die »zwei Herzen auseinanderzerren, die Gott aneinander

band«. Ferdinands und Luisens Bekenntnisse soldler Art — die eben

zitierten sind nicht die einzigen — sollen nicht etwa den Grad ihrer Zu-

neigung, den Zustand der ersten Liebe schildern: sie wurden vom Dich-

ter sicherlich nicht nur als kennzeichnende Äußerungen seiner Figuren

verstanden, sondern er maß jenen Worten, wie der Plan des Ganzen

zeigt, objektive Geltung zu. In ihnen klingt die >Theosophie des

julius<7 an. Was die Liebenden von ihrer Liebe sagen, deutet vor

auf die »Sympathie« in dem Lied >An die Freude<. Deshalb wird das

Paar Ferdinand-Luise zum Zeugnis, zum sichtbaren Beleg für den

»Riß zum unendlichen Weltall«. Zugleich aber auch zur Front oder

zum Lager, gegen das die Allianz der zynischen Weltleute — der

Präsident, Wurm und Kalb — steht. In diesem Betracht ist Ifflands

Titel >Kabale und Liebe< völlig angemessen, genauer als der zunächst

von Schiller gesetzte.

 

In dem mit »Liebe« überschriebenen Abschnitt der Theosophie heißt

es: »Liebe also — das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der

mächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der

erhabensten Tugend — Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen

Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augen-

blicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.« Die

>Theosophie des Julius< wurde in die »Philosophischen Briefe« eingeschoben,

die Schiller in der »Thalia« von 1787 veröffentlichte. Die Theosophie lag,

wenn auch wohl in etwas anderem Wortlaut, sicherlich schon weit früher

vor. Über die Datierung vgl. Buchwald, Schiller I, S. 202 ff.

 

Die beiden Lager

 

In den >Räubern< standen sich die Kolossalfiguren der feindlichen

Brüder entgegen, und eben ihre Kolossalität verdeckt zunächst den

Wertgehalt ihres Gegenüberstehens. Die Kontrastierung der Lager in

unserem Drama führt schon deutlicher an jene Antinomie der Werte

heran, die Schiller bald nach der Fertigstellung des Stückes in dem

Gedicht >Resignarion< (1784) erstmals frei sichtbar macht: »Hoffnung«

(oder »Glaube«) und »Genuß« werden dort als wechselseitig sich aus-

schließende Möglichkeiten, das Leben zu bestehen, einander entgegen-

gesetzt. Ein Jahrzehnt später heißen sie »Seelenfrieden« und »Sinnen-

glück«. Luise ist vom Beginn der Handlung bis zum Ende bereit, auf

Ferdinand zu verzichten und im Sinne der Parole aus jenem Gedicht

von 1784 zu handeln: »Wer glauben kann, entbehre.« Aber sie be-

grenzt ihren Verzicht: »Ich entsag ihm für dieses Leben. Dann ...,

wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen ... Dort rechnet

man Tränen für Triumphe« (I, 3).

 

»Dort« — das ist an jenem »dritten Ort«, von dem Luises Brief an

Ferdinand (V, l) spricht. Was die beiden Lager in diesem Drama

unterscheidet, ist in der Tat auf der einen Seite das Fehlen der »Hoff-

nung« bei denen, die zu »entbehren« nicht imstande sind. Deshalb

richten sie sich in der irdischen Welt dauerhaft ein und suchen allen

»Genuß« allein hienieden. Auf der Gegenseite, bei denen, die den

Ausblick des Glaubens und der Hoffnung haben, bezeugt sich das

Vermögen, zu entbehren und zu entsagen. Luises Hoffnung ist — in

schwärmendem Ausdruck — die christliche. Diese wird jedoch in

jenem Gedicht von 1784 als Illusion, als Selbsttäuschung enthüllt:

 

allein der auf die Jenseitshoftnung gegründete »Glaube« zählt, aber

er nur, sofern er als erwartungslose, in sich selbst schon erfüllte Wert-

entscheidung standhält.

 

Dem Gedicht geht es um die reine Interesselosigkeit des morali-

schen Strebens, das, seines sich selbst genügenden Wertes gewiß, ebenso

auf Weltfreudigkeit wie auf alle Jenseitigkeit zu resignieren imstande

ist. Solch heroischer Radikalität wegen findet in dem Gedicht eine

ziemlich verwickelte Vertauschung der Sprecher und der Perspektiven

statt. Sie kommt schließlich auf eine fast grausame Desavouierung

der naiven Werkgerechtigkeit hinaus. In Wahrheit wird aber nur

eine raffiniertere Werkgerechtigkeit dagegen eingetauscht. Dieses ver-

tauschende Spiel mit der immanenten und der transzendenten Schau

ist von ganz anderer Art als die geradlinig-straffe Struktur unseres

Dramas. Denn sie zielt just auf Ende und Entscheidung hin. Auch

werden die beiden Lager im Trauerspiel anders kontrastiert als im

Gedicht >Resignation<: Die Entscheidung für Weitläufigkeit und

»Genuß« wird von der poetischen Gerechtigkeit des Dramas als er-

laubte Möglichkeit gar nicht freigegeben. Ferdinand — so könnte

man bisweilen ihn verstehen — scheint eher jenem immanent ver-

harrenden Tugendglauben des Gedichtes als Luises Jenseitshoffnung

zuzuneigen, ohne sich freilich auf dessen schwierige Dialektik eil

zulassen: er will, was er allein als Wert gelten läßt, nämlich seine

Liebe zu Luise, hie et nunc erfüllt sehen. Einig sind die Liebenden —

und diese Einigkeit ist es, die sie zu Liebenden macht — in dem

Glauben, daß ihre Liebe über sich hinaus weist auf eine reinere,

höhere und vor allem wahrere Welt, als die es ist, in der tie stehen.

Solcher Glaube hat jedoch bei Ferdinand und bei Luise verschiedenen

Grund, und darin liegt letztlich die Möglichkeit der Entzweiung:

 

Ferdinands unbedingter Widerstand gegen die Weitläufigkeit trifft

auf Luises frommen Gehorsam. Luise erweist sich 'als die Stärkere.

Der Ausgang des Trauerspiels rechtfertigt sie nicU nur endlich auch

vor Ferdinand, sondern dieser Aktschluß scheint auch Luises Hoff-

nung einfacher, positiver zu bestätigen, als dies am Ende des Ge-

dichtes >Resignation< geschieht. Jedenfalls fi^rf jenes Gedicht, so eng

es sich mit unserem Drama berührt, nichr die Deutung des Trauer-

spiels, mindestens nicht seines Schlusses Leeinflussen. Man kann auch

von der Struktur, von dem Finale des Trauerspiels keine Linie zu

dem Gedicht ziehen, etwa in der / • sieht, durch sie die Entwicklung

von Schillers Denken zu bezeichr    Denn der Schluß, daß zwischen

dem bürgerlichen Trauerspiel ,<mu dem Gedicht >Resignation< der

Schritt von deistischer Welts^iau zum reinen, philosophischen Ver- |

nunftglauben getan worden • ei, wäre nicht zwingend: Gilt es doch, die '

einfache Wahrheit zu bt   iken, daß ein Drama — und gar ein so

autonomes wie dieses -  uemals das unmittelbare Selbstzeugnis des

Autors sein kann, wie ^ian es im Bekenntnisgedicht antrifft.

 

Die Verknüpfung

 

Zwischen beiden Lagern steht die Lady, — freilich nur nach der

Handlungssituation: ihr Denken und Wollen rücken sie neben Fer

dinand. Ihre Liebe zu ihm bedeutet für ihn eine noch härtere Probe

als es die erste war, nämlich die Brutalität des Vaters. Beiden An

fechtungen hält Ferdinand stand, und so endet der erste Teil de

Dramas am Ende des zweiten Aktes mit dem triumphalen Sieg seine

Unbeirrbarkeit. In klarer Folgerichtigkeit will er den nächsten Schrit

tun, nämlich zusammen mit Luise fliehen. An diesem Punkt tritt —

verglichen mit den >Räubern< — die verwickeitere Verstrebung de

dramatischen Struktur zu Tage: ;o kindlich-/.aghaft Luise gezeichne

ist, so kommt ihr gegenüber Ferdinand größere Selbständigkeit, meh

Eigengewicht zu, als sie Amalia Karl gegenüber besitzt. Luise häng

nicht nur an ihrem Vater, den Ferdinand ihretwegen in den Flucht

plan einbezieht, sondern ihre Frömmigkeit ehrt das Vaterrecht selbs

noch des Präsidenten: die Flucht, die Verbindung gegen den Willei

von Ferdinands Vater sieht sie im Widerspruch zum vierten Gebol

Jetzt versagt Ferdinand: seine Ungeduld, sein Kampfgeist, endlid

die Voraussicht des nächsten Gegenzuges von selten der »Kabale

lassen ein bloßes Abwarten nicht zu. Sein Handlungsdrang und sein

Opferbereitschaft schlagen um in den abstrusen Zweifel an Luise

Treue. In dieses Straucheln trifft genau und vorberechnet Wurm

Plan: die fromme Zugehörigkeit Luises zum Vater muß dem schreck

liehen Zwang erliegen. Der erzwungene Brief wiederum bestätig

Ferdinands zornigen Zweifel. Für die Liebenden, zumindest für Fer

dinand, triumphieren jetzt nicht nur die Macht des Präsidenten um

Wurms Ränkespiel (von dem Ferdinand ja noch nichts ahnt), sonden

das Gelingen der Kabale bedeutet mehr als nur das Scheitern voi

Ferdinands und Luises Liebe: das Fundament dieser Liebe, der Glaub

an ihren überweltlichen Sinn, das Zeugnis, das sie ablegen sollte fü

den höheren sittlichen Sinn hinter der Vorläufigkeit weltlich-oppor

tunistischer Wertungen — sie sind es, die Lügen gestraft werden

Diese Sicht ist es, die Ferdinand nicht lediglich bei der Verachtuni

der scheinbar treulosen Geliebten verharren läßt. Dem schauerliche!

Irrtum muß ein schreckhaftes Mahnmal gesetzt werden, der eins

heiligen, jetzt so furchtbar geschändeten Sache muß ein Opfer ge-

bracht werden: Luises und sein eigener Tod. Nicht anders als später

Posa über den Freund verfügt hier der Liebende über die Geliebte:

in der persönlichen Beziehung steckt der überpersönliche Wert, dem

eigentlich und letztlich Ferdinands Glut gilt. Was Schiller später in

seinen >Briefen zum Don Carlos < so klar über die Motivierung des

Posa auseinandersetzt, das steckt bereits, wenn auch noch ungeklärt,

in Ferdinand. Luise, durch den satanischen Eid gebunden, opfert

ihrem Vater den letzten Anteil an ihrer Liebe zu Ferdinand: sie ver-

nichtet den Brief, in welchem sie den Geliebten zur gemeinsamen

Flucht in den Tod, zum Aufbruch an den »dritten Ort« als an den

Ort der Wiederherstellung aufruft. Im Zeichen der Hoffnung will

sie ihn zu dem gleichen Schritt auffordern, den Ferdinand in so ganz

anderem Sinne plant: »Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Ver-

dammnis geflochten... Gott! Gott! Die Vermählung ist fürchterlich,

aber ewig.« So ausweglos sind die Liebenden und unter so wider-

sprechenden Zeichen an ihre Liebe gebunden. Immer noch steht ihre

Verbindung unter der überweltlichen Perspektive, mag sie auch nach

so widersprechenden Blickpunkten weisen — hier zum Himmel, dort

zur Hölle. So künstlich und in seiner Glaubhaftigkeit fragwürdig

Ferdinands Eingehen auf das Ränkespiel des Präsidenten und Wurms

sein mag, so wenig bedeutet dies angesichts der tragischen Folge-

richtigkeit, nach der Ferdinand und Luise hernach in jedem Betracht

verfahren. Deshalb erlangt denn auch das kurze Finale nach ihrem

Tod solche Gewalt, solche Größe: Was als Zeugnis eines entsetzlichen

Irrtums gewollt war, schlägt um in die niederwerfende Verkündigung

der Wahrheit. Der Sühnetod des Liebespaares wird zum Gericht über

das Intrigantenpaar und zum Zeugentod. Dies geschieht ohne alle

höhenden oder gar theatralischen Mittel, allein durch die unwider-

stehliche, großartige Geradlinigkeit der dramatischen Struktur.

 

Die Entsprechung zum Finale, ja zum Plan der >Räuber< überhaupt

liegt zu Tage. Täuschender Schein und irrender Wahn sind also auch

im bürgerlichen Trauerspiel Ursachen der Verwicklung und Antriebe

des Handelns. Wie in den >Räubern< stehen sich Überschwang des

Herzens einerseits, Hochmut des übermächtigen Scharfsinnes anderer-

seits gegenüber. Der eine wie der andere vermißt und verstrickt sich

in Schuld und Verbrechen. Der rasche, unverhüllte Täter wird durdi

den Ausgang — wie Karl in den >Räubern< — eher gerechtfertigt als

die arglistigen Planer. Wie Franz, so sehen sich der Präsident und

Wurm spät, aber jählings und endgültig widerlegt. Zugleich fällt aber

ein beträchtlicher Unterschied gegenüber den >Räubern< ins Auge: die

weiter ausgreifende, zugleich dichter in sich verfugte Verstrebung der

Begebenheit und die größere Selbständigkeit ihrer Teile.

 

Die Selbständigkeit der Figuren

 

Wir bemerkten schon, wieviel selbständiger Luise neben Ferdinand

steht als Amalia neben Karl. Das folgt jedoch gerade aus ihrer Bin-

dung an den Musikus und aus dem Gebundensein durdi ihre Fröm-

migkeit: sie ist Liebende und Tochter zugleich, darüber hinaus aber

eigene Person, und dies eben in dem Ernst ihrer Gläubigkeit. Das

Fräulein von Edelreich gehört zu niemand, es sei denn zu Karl, sie

befindet sich eher im Moorschen Schloß, als daß sie dort lebt. Deshalb

vermag sie auch so frei über sich zu verfügen, wie es ihr Gestimmtsein

und Situation jeweils eingeben. Andererseits handelt Wurm nicht nur

als beflissener Einbläser seines Herrn, sondern der Sekretär fühlt sich

zugleich als »Bürgersmann« (I, 5), der keineswegs die Wertungen der

höfischen Welt billigt, so eifrig er dieser dient: sein Interesse ist ganz

sein eigen und anders als dasjenige des Präsidenten, mit dem er

freilich und durch den er handelt. Das »bürgerliche Trauerspiel« ge-

winnt also durch Schiller eine formende Kraft, die es bei Lessing noct

nicht hatte: Die Figuren stehen, anders als in den >Räubern<, nicht

nur als Handelnde und Erleidende, nicht nur als Funktions- odei

Ideenträger lediglich in einem dramatischen Plan, sondern sie gehörer

ebensosehr in einen jeweiligen Lebenszusammenhang, in ein be-

stimmtes soziales Gefüge. Die Familie und der Stand erlangen be-

stimmende Kraft, und die Wirksamkeit sozialer Bindungen wird

abgesehen von der bestimmteren Prägung der Figuren, für die Struk

tur des Dramas nutzbar gemacht: Darauf gründet Wurm seine Intri

ge, aber zuvor wird er selbst dadurch ins Spiel gebracht, im wört-

lichen Sinn dieser Redeweise. Zum allgemeinen Befund des Unbe-

günstigtseins durch Natur und Schicksal, den Wurm mit Franz MOOI

 

teilt, tritt nun die besondere Kausalität, die in Standeszugehörigkeit

und Familiensinn liegt. Eben darum ist, wie sich versteht, Wurm

kleiner als Franz: die eisige Höhenluft des radikal Bösen, des Ver- i

brechens als Kunst, weht nicht mehr.

 

Alle Gestalten, ausgenommen Ferdinand und die Milford, sind

bezogen auf eine bestimmte Bindung sozialer Art. Von dorther ist

ihr Wollen und Handeln einleuchtend motiviert, aber eben deshalb

sind sie relativ auch in ihrer Ausprägung: wenn schon abgefeimt, so

doch nicht nur schlecht oder nicht schlechthin böse. Das gilt vornweg

für den Präsidenten, der offenbar als verwitwet vorzustellen ist. Selt-

samerweise wird dieser Umstand, der für das Verhältnis zwischen

Vater und Sohn doch wichtig genug wäre, nie mit einem Wort er-

wähnt. So sehr der Präsident den Hofmarschall an Geisteskraft über-

ragt, so muß doch das Verfügen des Vaters über die Hand und. das

Glück des Sohnes sozusagen mit den Augen des Hofmarschalls ge-

sehen werden, wenn man dem Präsidenten gerecht werden will. Ge-

wiß geht es dem Präsidenten bei der Ehestiftung zwischen Ferdinand

und der Milford um die Erhaltung seiner Macht. Darüber läßt er

weder den Zuschauer noch Ferdinand selbst im Zweifel. Daß diese

Heirat für Ferdinand eine »Zumutung« (I, 7) ist, das liegt Jedoch

außerhalb seines Gesichtskreises: er glaubt — und die hona fides ist

ihm nicht abzustreiten — zugleich auch der Zukunft seines Sohnes

aufs beste zu dienen. Das Böse liegt — übrigens vom Präsidenten

durchaus gefühlt — hinter ihm, in einer dunklen Vergangenheit: im

Drama selbst erscheint der Präsident als überzeugter, trotz aller

Wendigkeit beschränkter Hofmann, als tyrannischer Vater, aber nicht

als Bösewicht8. Sogar Wurm steht im Zwielicht zwischen Teufel und

armem Teufel, und es bedarf nur des anspruchsvollen Schauspielers,

damit Kalb ebenso rührend wie lächerlich erscheint. Ferdinand hin-

gegen ist des Präsidenten Sohn nur um der Knüpfung des drama-

tischen Knotens willen: er handelt ganz von sich aus, allein nach

seinem Herzen. Weniger vom Vater als von dessen politischer Macht

hängt er ab, und auch dies keineswegs bedingungslos oder endgültig:

 

iese Zweideutigkeit von ehemaligem Verbrecher und gegenwärti-

gem Ehrenmann präfiguriert bereits den Narbonne in >Die Kinder des

der Präsident ist sein Gegenspieler — eben vermöge des Zusammen-

treffens von Vaterschaft und Machtstellung —, aber Ferdinand ist

bereit, ohne Schonung seinerseits als Gegenspieler des Präsidenten auf

den Plan zu treten. Dessen bedarf es, damit Ferdinand die freie Selb-

ständigkeit innerhalb des dramatischen Gefüges gewinnt, die ihm dei

Dichter zusprechen wollte. Deshalb weiß der Sohn von den dunkler

Machenschaften, denen der Präsident seine Stellung verdankt. Wer

in der Verbindung zwischen dem Präsidenten und Ferdinand die

Familie und der Stand — jedenfalls was Ferdinand angeht —

die Kraft nicht haben, die ihnen überall sonst, wie wir sahen, in

Stück zukommt, deshalb wohl bleibt die Mutter Ferdinands, die

Gattin des Präsidenten, so völlig außerhalb des Spieles: Da;

 

Verhältnis von Sohn und Vater bezeichnet keinen Lebenszusammen-

hang, sondern nur eine dramatische Funktion. Nicht Luise, sonden

Ferdinand gleicht in der Bindungs- und Ortlosigkeit der Amalia ii

den >Räubern<.         

 

Deutlicher noch erscheint die Unabhängigkeit an der Engländerin

die der Zufall zur Favoritin des Herzogs gemacht hat: aus eigene

Kraft und vermöge eigener Entscheidung ist sie nicht nur seine Be

herrscherin, sondern auch die Ehepartnerin Ferdinands geworden. Sii

ist wirklich »die freigeborene Tochter des freiesten Volkes unter den

Himmel« (II, 3). Nächst der Leidenschaft für Ferdinand ist es alleil

das Verlangen nach Größe, wodurch die stolze Britin sich leiten läßt

Die freie Selbständigkeit dieser beiden Figuren bedeutet sicherlich

daß der Dichter, wenn überhaupt, so durch ihren Mund spricht. Ebei

ihre Freiheit ist es, wodurch ihre Prägung unbestimmter wird: wede

die englische Herkunft noch die Majorsuniform führen die beidei

Figuren aus der Großlinigkeit des allgemeinen, heroischen Umrisse

heraus, den wir von den Gestalten der >Räuber< kennen. Zur Anklag

des Kammerdieners 9 gegen die ruchlose Willkür des Monarchen füg

sich gleich hernach die Kritik der Favoritin: wie Ferdinand gibt si

die Vorteile ihres Standes auf, umgekehrt bedient sich der Bürge

Wurm für seine persönlichen Absichten des höfischen Mißregimente;

 

Es gibt also Überwinder des Standes im Lager der Bevorrechteten und

verräterische Nutznießer im benachteiligten Stande: so wichtig in

diesem bürgerlichen Trauerspiel der Standesunterschied wird, so

wenig kommt es — trotz dem so scharfen Angriff auf den Mißbrauch

fürstlicher Gewalt, auf die Verderbtheit der höfischen Welt — zur

grundsätzlichen, alternativ-exklusiven Gegenüberstellung von Hof

und Bürgertum. Weit weniger als in >Emilia Galotti< wird das

schwarz-weiße Schema von Tugend und Laster alternativ auf die

beiden Lager und ihre Konfrontierung bezogen. Eine solche Verein-

fachung wurde nicht etwa aus politischen Erwägungen, sondern aus

dramatischen Gründen vermieden: Die Verstrebung in diesem Drama

ist zu verwickelt und zu eng zugleich, als daß ein solcher Schematis-

mus möglich gewesen wäre.

 

Die Komposition

 

Die Organisation der Begebenheit wird immer bewunderswert blei-

ben: wenige, geniale Griffe verschränken die Fäden zwischen Vater

und Sohn, zwischen seiner Geliebten und seinem Nebenbuhler, zwi-

schen dem Liebhaber und der Rivalin seiner Geliebten schlüssig und

mit fortwirkender Kraft. Diese ungemein dichte Verstrebung macht

ein Meisterstück von Exposition möglich: Nach dem hurtig drängen-

den Auftakt der häuslichen Streitszene zwischen dem Musikuspaar

setzt mit dem Auftritt Wurms — also bereits in der zweiten Szene,

noch innerhalb der Exposition — alsbald die Handlung ein. Im Ge-

spräch zwischen dem Präsidenten und Wurm wird sie sofort mächtig

vorangetrieben: die herrischen Terminangaben des Präsidenten  zu

Wurm: »Gut, diesen Morgen noch«, zu Ferdinand: »Die Wacht-

parade fängt an. Du wirst bei der Lady sein, sobald die Parole ge-

geben ist« — machen die eilige Gedrängtheit des Fortschreitens ge-

radezu hörbar. Dieses Drängen des Präsidenten verfugt Ende des

ersten und Anfang des zweiten Aktes eng ineinander: Ferdinand muß

mit derselben Eile, die der Präsident für seinen Gang zur Lady er-

zwingt, von ihr weg ins Musikhaus stürzen, um dort dem Vater

zuvorzukommen. Erst das Ende des zweiten Aktes, das Ferdinands

Drohung gegen den Präsidenten setzt, ergibt einen ersten Einschnitt

und Stillstand. Mit dem dritten Akt setzt die Handlung neu ein.

 

Jetzt verwickelter, weniger drängend —, aber sie verläuft ebenso auf-

enthaltslos wie im ersten Teil: bereits in der Schlußszene dieses Aktes,

zwischen Wurm und Luise, gewinnt sie abermals einen dramatischen

Höhepunkt. Der vierte Akt erhält seinen Antrieb durch die Verkeh-

rung der Situation infolge des Gelingens der Intrige: der Präsident

gibt scheinbar nach, Lady Milford verzichtet. Nach drei ungemein

beschleunigten, handlungsgedrängten Akten ist der langsamere Gang

des vierten durchaus im Sinne einer dramatischen Ökonomie. Dieser

Akt ist deshalb notwendig schwächer als die vorausgehenden. Sein

Thema muß sein: einerseits die Wirkung der von Wurm ausgeheck-

ten Machenschaften zu zeigen, andererseits zu der Katastrophe über-

zuleiten, die von den Ränkeschmieden nicht einberechnet worden ist.

So wirkungsvoll die Durchkreuzung der Intrige durch den Abgang

der Lady, so großartig ihr Abtreten ist, leiden doch diese Szenen,

ja das ganze Gefüge des Aktes unter dem willkürlichen, von außen

kommenden Ansatz. Er war freilich anders nicht zu bewerkstelligen,

sofern die Milford ein zweites Mal auftreten und mit Luise konfron-

tiert werden sollte. Dem letzten Akt bleibt nichts als der düstere

Vollzug zuerst des wahnhaften, dann des rechten Gerichtes. Ihm

voran geht die Klage, für deren Verströmen jetzt erst Raum und

Freiheit ist, die Klage über die geschändete Liebe und die verwüstete

Welt. Die Kraft Schillers zur Variation, genauer zur variierenden

Steigerung, von der in dem Abschnitt über die >Räuber< zu sprechen

war, offenbart sich in diesem so lang ausgehaltenen Trauergesang:

bald andante maestoso, bald adagio cantahile — derart ist die lange

Szene zwischen Ferdinand und Luise trotz manch naiver Kraßheit

von hinreißender Wirkung.

 

Die sofort einsetzende, rasch ansteigende Handlung, die Zäsur

nach dem zweiten Akt, die auf das Ende zu fallende Kurve in den

letzten drei Akten — diese Architektur des Planes erinnert bereits an

die Dramen der Reifezeit. Auch Schillers späterer Grundsatz, aus

einer einzigen Verknüpfung, dem punctum saliens, den ganzen Hand-

lungsverlauf gleichsam herauswachsen zu lassen, ist in diesem Ju-

gendwerk schon weithin verwirklicht. Die großlinige Straffheit des

Gefüges geht wiederum in einzelnen Punkten über die Stichhaltigkeit

der Motivierung hinweg: wie in den vorausgehenden Dramen wird

 

das Verhalten der Figuren bisweilen nicht aus ihrem Charakter, son-

dern allein aus dem augenblicklichen Bedürfnis der Szene und des

dramatischen Planes gefolgert. Dieses Verfahren hinterläßt seine Spur

in der Kenntnis, die Ferdinand von der dunklen Vergangenheit des

Präsidenten hat. Deutlicher noch wird es in der Intrige durch den

erzwungenen Brief. Um ihr die Bahn zu bereiten, muß sich Ferdinand

so völlig Luisens Einwänden gegen seinen Fluchtplan verschließen,

ja noch mehr: Anbeter seiner Geliebten, der er ist, unterliegt er als-

bald den niedrigsten Zweifeln an ihrer Treue (III, 4). Dieser Bruch

in seinem Wesen und Denken hat dem Zustandekommen der Täu-

schung durch den Brief zu dienen. Ebenso steht es um den abrupten

Schluß seiner Szene mit dem Hofmarschall: Ferdinand darf den

Kalb gar nicht erst anhören, der schon dabei ist, den ganzen Betrug

noch rechtzeitig aufzudecken. Wie Luise in der Briefszene völlig hilf-

und ahnungslos zu sein hat, so muß Ferdinand mit einem Mal der von

der Güte des Vaters überwältigte Sohn sein, wenn ihm der Präsident

seine heuchlerische Zustimmung zu der Wahl Luises verkündet.

 

Anders als um diese Zugeständnisse an die Handlungsführung ist es

jedoch um die auffälligste Schwierigkeit bestellt, um die Szene zwi-

schen Luise und der Lady (IV, 6—8). Denn diese Begegnung ist für

den Handlungsverlauf nicht erforderlich: schon Ferdinand ist er-

staunt darüber, daß die Lady, wie er sie voll bewundernder Zer-

knirschtheit kennengelernt hat, aus seinem Geständnis nicht die Fol-

gerung zieht, auf seine Hand zu verzichten (II, l). Ein solcher Ver-

zicht liegt in der Tat in dem vom Dichter angegebenen Charakter.

Die Milford erklärt ihm, weshalb sie nicht verzichten kann: Rück-

sicht auf ihre Stellung. Das ist die subjektive, zur Not plausible

Interpretation der objektiven, nämlich der dramatischen Notwendig-

keit für die Aufrechterhaltung ihres Anspruches. Nach dem Gelingen

von Wurms Anschlag bleibt ihr Resignieren ohne Einfluß auf den Ver-

lauf, es vermag nur die gerissenen Rechner bloßzustellen. Diese Wir-

kung hätte sich jedoch auch ohne ein zweites Auftreten der Lady

erreichen lassen. Andererseits bedarf die Lady, um sich zum Verzicht

durchzuringen, nicht erst der Vorhaltungen Luises. Für Luise jedoch

läuft die Szene in dramatischer Hinsicht leer: sie hat auf Ferdinand

schon vorher, in der Briefszene, um des Vaters willen verzichten

müssen, und dies auf ebenso erniedrigende wie unwiderrufliche Art.

Ihr abermaliger Verzicht der Lady gegenüber hat deshalb etwas von

Pose an sich, und in der Tat — eben dies macht das Ganze wahr-

haftig rätselhaft — sieht sie selbst mit selbstironischer Bitterkeit ihre

Situation in dieser Weise: »sollte sie (die Lady) an der barbarischen

Tat (an dem erzwungenen Brief) im Ernst keinen Anteil gehabt

haben? Ha! so könnt ich mir ja noch den Schein einer Heldin geben

und meine Ohnmacht zu einem Verdienst aufputzen« (IV, 7, am

Ende). Kurzum — die Unstimmigkeit in jedem Betracht ist so groß,

daß sich sehr wohl die Vermutung einstellen konnte, die ganze Szene

sei von Schiller erst nachträglich eingefügt worden. In der Tat hören

wir mehrmals von einer Umarbeitung einer früheren Fassung des

Werkes. Schiller selbst sagt darüber:

 

»Meine Louise Millerin hab ich sehr verändert. Das ist etwas Ver-

haßtes, schon gemachte Sachen zerniditen zu müssen«... »Meine Louise

Millerin jagt mich schon um 5 Uhr aus dem Bette. Da sitz sie, spitze

Federn, und käue Gedanken. Es ist gewiß und wahrhaftig, daß der Zwang

dem Geist alle Flügel abschneidet. So ängstlich [== sorgsam] für das

Theater — so hastig, weil ich pressiert bin, und doch ohne Tadel zu schrei-

ben ist eine Kunst. Doch gewinnt meine Millerin — das fühl ich. Vor Ver-

änderung beben Sie nicht mehr. Meine Lady interessiert mich fast so sehr,

als meine Dulzinea in Stuttgart.«

 

Andreas Streicher berichtet von einer schon früheren Absicht Schil-

lers, seinen Entwurf auf die Bedürfnisse des Mannheimer Theaters

und auf die Manier bestimmter Schauspieler einzurichten12. Wenn

man an die spätere Änderung eines ursprünglich andersartigen Ent-

wurfes denkt, dann kommt als wahrscheinlichstes Motiv die Rück-

sicht auf die Theaterpraxis in Betracht: für die Lady bedurfte es in

jedem Fall einer Schauspielerin vom ersten Fach. Es war vorauszu-

sehen — vielleicht lag für Schiller schon ein bestimmtes Anzeichen

vor —, daß eine solche Protagonistin auf einer weiteren Szene der

so glänzend eingeführten Figur, zumindest auf einem wirkungsvollen

Abgang aus dem Stück bestehen würde. Das alles läßt sich hören.

Andererseits mochte der Dichter sehr wohl ganz allein von sich aus

eine sichtbar-nachdrückliche Verabschiedung der so wesentlichen Ge-

stalt für geboten halten. Dazu kommt: hier bot sich ihm eine »Situa-

tion«. Was darunter zu verstehen ist, haben wir im Laufe der Beschäf-

tigung mit dem >Fiesco< gesehen. Das »republikanische Trauerspiel«

liefert Belege genug dafür, daß der jugendliche Dramatiker die Mög-

lichkeit zu effektvoller Kontrastierung nicht nur auf Kosten der

Kontinuität seiner Figuren, sondern sogar zu Lasten der Struktur

des Dramas einrichtete.

 

Gerade das, was uns heute die Begegnung zwisdien der Lady und

Luise so schwer erträglich macht, erklärt sich ohne weiteres aus der

Neigung des jungen Schiller, solche Kontrast-Szenen ganz und gar

auszuschöpfen: die Konsequenz aus der Situation, das Verlangen nach

Wirkung, genauer nach Rührung — sie machen Luise zur altklugen

Demonstrantin ihres Jammers, die Lady zur aufgedonnerten Grande- 

dame. Die bravouröse Beredsamkeit beider Frauen, die ihre Parade-

szene haben, und dies wohl im Stil des Mannheimer Theaters von

1783, hebt sich dergestalt notwendig ab von dem vorhergehenden

Ausdruck beider Figuren. Der Unterschied wird in unserem

Stück um so auffälliger, als seine Sprachform, besonders im Dialog,

durch eine gewisse sachliche Knappheit bestimmt ist: So stürmisch

oder herrisch Ferdinands Entschlossenheit, hernach sein Zorn die

Sätze türmen, so hemmungslos sich endlich seine Klage ergießt,

immer bleibt seine Rede um eine Spur gedrängter, sozusagen kantiger

als die Entladungen Karls.

 

Ganz neu ist das präzise Ineinandergreifen von kurzer, geschlif-

fener Äußerung und ebensolcher Erwiderung zwischen dem Präsi-

denten und Wurm, in anderer Tonart zwischen dem Musikus und

Wurm. Das Gleiche gilt auch von der Führung der zwei Gespräche

zwischen dem Präsidenten und Kalb: das Sprechenlassen, das halbe,

gleichwohl wachsame Zuhören auf selten des Präsidenten, das flüssig-

alberne, kontaktlose Schwätzen des Kalb, das plötzliche Eingreifen

und Zupacken des Präsidenten — diese Art des Dialoges gibt es im

>Fiesco< nicht, obwohl manche seiner Situationen die Möglichkeit zu

einer solchen Gesprächsführung boten. Dabei ging es dem Dichter wohl

freilich eher um Ökonomie und Arrangement der Szene als um d(

Sprachausdruck. Dieser ist jedoch in einem weiten Bereich des Dr;

 

mas anders beschaffen als in den beiden vorausgehenden Stücken: d'

Präsident, Wurm, Kalb und wahrlich nicht zuletzt der Musikus, v(

ihm abermals unterschieden seine Frau — sie alle reden jeweils in ein

besonderen Sprache. Nicht mehr nur durch den Gehalt, sondern dur

die Form ihrer Rede stellen sich, von ihrem Handeln abgesehen, die

Figuren her und dar als Menschen, die einer bestimmten, eigentür

liehen Lebenssphäre zugehören: zu ihrem Wollen, Empfinden m

Tun fügt sich, in der Andeutung wenigstens, ihr bloßes Sein. D

Liebenden, Ferdinand und die Lady, in geringerem Grade au

Luise, sind nur da, insofern sie fühlen, streben und handeln. Dar

gleichen sie den Protagonisten der >Räuber< und des >Fiesco<. Ande

ihre Partner und Gegenspieler: die stehen, wir haben es schon b

merkt, in diesem oder jenem Gefüge ständischer Ordnung.

 

 

Die Umwelt

 

Jedoch nicht nur hinter ihnen, sondern auch hinter den Liebend

wird ein Hintergrund spürbar, der über die jeweilige Szene, über c

Bühne überhaupt hinausgreift. Am stärksten wirkt er in das Drar

herein durch den Auftritt des Kammerdieners: da erscheint plötzli

das Land, also ein allgemeineres und keineswegs weniger drangvoll

Schicksal als das der Liebenden. Im Präsidenten und in Kalb wi

der Hof weit mehr gegenwärtig, als dies in >Emila Galotti< durch d

Souverän selbst geschieht. Als strahlungskräftig — so wird man wc

sagen dürfen — erweist sich für den heutigen Leser und Zuschaii

der Beruf von Luises Vater: ganz und gar Handwerker nach A

Spruch und Menschentum, hat er anderes als leiblich-unmittelbai

Bedürfnis zu befriedigen. So ausgeprägt in ihm das bürgerliche Sta

desgefühl ist, so steht der Vierschrötige dennoch zwischen Bürger- u:

 

Hofwelt: Adel und Hofbedienstete sind seine Klientel. Diese zw

lichtige, interessante Existenz zwischen den Ständen wird an c

skurrilen Figur seiner Frau noch deutlicher als an ihm selbst. Dui

diese Gestalten und um sie herum entstehen Hintergrund und Stil

mung, die Atmosphäre der Residenzstadt, nicht einer beliebigen (<

 

>Emilia Galotti< könnte ebensogut im Kostüm der Renaissance wie

in der Tracht des Rokoko gespielt werden), sondern der »Hof eines

deutschen Fürsten« des Personenverzeichnisses wird unvertausdibar

gegenwärtig. An den Musikusleuten läßt sich besonders deutlich eine

Weise des Sehens und Formens erkennen, die vordem für Schiller

außerhalb des dichterischen Gesichtskreises oder doch nur an seinem

Rande lag. Es handelt sich Jedoch nicht etwa um eine Wendung zum

Realismus oder gar Naturalismus: mit formaler Grundsätzlichkeit

oder Schuldoktrin haben jene überraschenden Formzüge gewiß nichts

zu tun. So sehr Schillers Nähe zur Theaterpraxis auf den >Fiesco< und

in manchem Betracht auch auf >Kabale und Liebe<13 eingewirkt hat,

so wenig bedeutet die Theaterkonvention der Zeit für Figuren wie

den Musikus. Das lehrt ein Blick auf Gemmingens Stück und auf

Ifflands Schauspiele: Schillers Musikus deckt sich weder mit dem

Typus des Polterers noch des redlich-verständigen Familienvaters.

Die Figur ist überhaupt nicht nach Rezepten des Genres zusammen-

gestückt: bei aller bodenrüdugen Deftigkeit entbehrt er nicht der

Größe, so wenig wie der Kammerdiener. Auch in den Gestalten des

Präsidenten, des Wurm, des Kalb steckt nichts von schildernder, illu-

strativer Absicht: jede wird in ihrer Eigentümlichkeit mit wenigen,

sicheren Strichen deutlich bestimmt, aber mehr angegeben, mehr hin-

gesetzt, als sorgsam ausgeführt. Solch prägnante Knappheit ist neu

und durchaus allein Schillers Griff zu verdanken. Alle Figuren aber

sind einbezogen in die straffe Struktur des Dramas, die so sehr noch

an die >Räuber< erinnert: viel reiner als im >Fiesco< wirken in diesem

bürgerlichen Trauerspiel die Kraftlinien der über große Strecken ge-

spannten Steigerung, denen wir in den >Räubern< genauer nachgegan-

gen sind. In der Szenenführung der ersten beiden Akte, zumal in der

immer neu angesetzten Spannung auf das Finale des zweiten Aktes

hin ist die Hand des Dichters, der die >Räuber< schrieb, sofort er-

kennbar.

 

Eben diese Vergleichbarkeit zeigt, daß aus der Dramenform des

bürgerlichen Trauerspiels durch Schiller etwas anderes geworden ist

als das, was er in dieser Gattung vorfand. Vielleicht kann man die

Wirkung der neuen Form auf Schiller darin vermuten, daß sie den

Dichter mehr als seine bisherigen Absichten und Gegenstände zum

Konkreten hin lenkte. Es ist das erste Mal, daß Schiller den Stoff zu

einem Drama nicht als Erzählung oder historische Begebenheit vor-

findet, sondern frei erfindet. Dabei wirkten wie später bei der >Braut

von Messina< — denn das ist ja von Produktivität dieser Art nicht

abzutrennen — literarische Reminiszenzen14 mit. Das meiste hat er

wohl aus eigener Kenntnis genommen: ihm war die Welt seines Dra-

mas spontan gegenwärtig, ob er hier an Ludwigsburg und Stuttgart,

dort an Mannheim 15 dachte. Dem nachspüren und sondern wollen,

hieße die Absicht des Dichters, die Gestalt seines Werkes mißverste-

hen. Daß er sein Trauerspiel in der eigenen Gegenwart, in einer ihm

bekannten Umwelt ansiedelte, entsprang sicherlich nicht einem Pro-

gramm, das durch das heutige Stichwort »Aktualität« bezeichnet

werden könnte. Diese Wahl hing viel mehr mit dem zusammen, was

.er offenbar als Forderung der neuen Dramenform betrachtete: Hin-

wendung zum Gegebenen und Konkretenle. Die Sicherheit, mit

der Schiller den neuen Gegenstand bewältigt, ist ebenso überraschend

vor allem an die >Emilia Galotti<, in einigen Stellen bis zum Wortlaut:

 

(Appiani) »Ich werde eine fromme Frau an Ihnen haben.« (11,7); (Wurm)

»Ich werd' einmal eine fromme, christliche Frau an ihr haben.« Anderswo

erscheinen Redefiguren, die für Lessings Stil kennzeichnend sind: »Gezwun-

gen, Lady? Gezwungen gab? Und also doch gab?« (Ferdinand II, 3). Das

Nachwirken des Lessingschen Stückes bleibt in >Kabale und Liebe< ziemlich

peripher, tiefer ging es im >Fiesco<. Die Anregung durch die bürgerlichen

Trauerspiele Wagners, Lenzens und des Freiherrn von Gemmingen bleibt

im Allgemeinsten und deshalb ungreifbar.

 

Der Ausruf von Millers Frau: »Luise, der Major! er springt über die

Planke!« (I, 3) wird nur dann verständlich, wenn man die heute noch

lebendige Benennung für eine der Mannheimer Hauptstraßen »Die Plan-

ken« zugrunde legt: Die Millerin steht am Fenster und sieht Ferdinand

über die Straße laufen (»springt« ein Suevizismus für »laufen, rennen«).

Die Planken führen am Paradeplatz vorbei und haben ihren Namen von

den Brettern, die ehedem den Paradeplatz bedeckten und zu einer Prome-

nade bei jedem Wetter machten. Ein Stich von J. F. Riedel aus den 70er Jah-

ren des 18. Jahrhunderts zeigt den Paradeplatz und neben ihm den mit

Brettern belegten Promenadeplatz.

 

16 In diesem Sinn läßt sich die Bemerkung Streichers verstehen, Schiller

habe beim ersten Entwurf seiner Figuren an einzelne bestimmte Schau-

spieler des Mannheimer Nationaltheaters gedacht (vgl. Fußnote 12 auf

S.107).

 

wie bedeutsam: noch deutlicher und auf breiterem Raum als etwa

in der einen Figur des Spiegelberg zeigen sich mannigfaltige Mög-

lichkeiten seines dichterischen Prägens an. Neben die Formzüge der

>Räuber< und des >Fiesco< treten solche ganz anderer Art: vor allem

Knappheit und Leibhaftigkeit sind ihre Kennzeichen. Dieser Sach-

verhalt ist für einen Begriff von Schillers dichterischer Entwicklung

wichtiger als die zeitkritische Tendenz, von der so lange schon als von

einer Hauptsache an unserem Drama die Rede ist. Was wir heute so

sehen (und derart nehmen dürfen), das war beim Entstehen des Dra-

mas wohl eher ein Begleitphänomen jener Wendung zum Konkreten:

 

das zeitkritische Moment steckte gewissermaßen schon im Stoff. Jeden-

falls gewann das bürgerliche Trauerspiel durch Schillers Stoffwahl,

durch seine dichterische Leistung an diesem Stoff eine ganz neue

Weite und Lebendigkeit. Was im Lustspiel durch >Minna von Barn-

helm< erreicht worden war, das zeigte sich jetzt in der tragischen Re-

gion. Allerdings der Satz, mit dem Lessing seine Zielsetzung für das

bürgerliche Trauerspiel beschlossen hatte: »ein Staat ist ein viel zu

abstrakter Begriff für unsere Empfindungen«, wurde durch Schillers

Beitrag zu dieser Gattung einigermaßen eingeschränkt.

 

Indessen, der Schwerpunkt des Dramas liegt, wie gleich zu Beginn

dieses Kapitels gezeigt wurde, außerhalb der Grenzen, die der Stoff

zieht, entrückt aus bestimmter, zeitgenössischer Umwelt, im Bezirk

des hohen Dramas, dort, wo die >Räuber< ihren Ort haben. Aller-

dings treten weder gekrönte Häupter auf — hier und dort nicht —,

noch werden Staatsaktionen vollzogen, aber trotz der Darstellung

Marmontels und Lessings vom bürgerlichen Trauerspiel, die wir an

den Anfang dieses Kapitels stellten, hat man die >Räuber< noch nie

für ein bürgerliches Trauerspiel gehalten. Vornehmlich zwei Wesens-

züge an Schillers erstem Werk schienen uns zurückzudeuten auf das

Barock drama: die Gegenüberstellung einer vorläufigen, verzerrten,

irdischen Welt und einer ewigen, gültigen. Sodann — freilich weniger

ausgebreitet als jene eschatologische Schau — die Größe, die Glorie

der Außerordentlichkeit als höchstes Ziel menschlichen Wollens. Diese

beiden Vorstellungen bestimmen nicht nur die Gestalten im Kern-

bereich — Ferdinand, Luise, die Lady —, sondern sie durchdringen,

trotz der Sonderstellung der drei Liebenden, das ganze Werk. Betrach-

tet man es, wie wir taten, genauer, so fühle man sich geneigt, ja ge-

nötigt, zwei Schichten zu unterscheiden und dem älteren einen jünge-

ren Stil gegenüberzustellen. Dennoch ist dieses Drama ein in sich

geschlossenes und unabteilbares Ganzes. Der Umstand, daß es sich

aus verschiedenen Wurzeln nährt, erhält ihm Lebendigkeit und un-

geminderte Anziehungskraft über die Zeiten und ihre Einwände hin-

weg. Auf die Leistung des Dichters geachtet, bedeutet das Werk ge-

wisser, eindeutiger als der >Fiesco< einen Schritt über die >Räuber<

hinaus.