BROKALHAUS

Das intermediale Kunst-Projekt

 

Brokal - was ist das denn?

Ein Erklärungsversuch von hwmueller

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Brokal - was ist das denn?

Ein Erklärungsversuch von hwmueller


 

I. Eine Annäherung an den Begriff "Brokal".

“Theorien sind lebendige und atmende Neukonfigurationen der Welt.”

(Karen Barad *1)


Brokal ist ein Kunstwort, das unberührt sinnfrei und leer ist und sich daher erst in der akuten Gegenwart, also im Schnittpunkt von Raum und Zeit, im Gebrauch definiert. Allgegenwärtig, ähnlich dem Higgs Feld, beschreibt es Möglichkeit, oder genauer, es ist der Zustand der Ambivalenz, welche als Kontingenz potentielle Energien erst im Jetzt freisetzt. Die Freisetzung gestaltet Form und Inhalt.

Insofern liegt es im indiskreten Raum zwischen Frage und Antwort und ist frei jedweder Kausalität. Eine unscharfe Konstante also mit dem Wert Unendlich, resp. Null. Denn Wirklichkeit ist Annäherung, oder Schätzung, eine Aufrundung auf wenige Kommastellen.

Da es selbst zeugend(autopoetisch) ist, braucht es lediglich ein Medium, wie die Kunst, der Sprache, der Liebe und alle andere Formen der Existenz, um in Erscheinung zu treten.

Da es temporär ist, wird es immer wieder neu in dem Echoraum des bereits von einem oder einer Gruppe Gewusstem erzeugt. Hierbei spielt die Erfahrung und die Erinnerung eine formgebende Bedeutung.

Brokal dagegen wirkt im Agens, im Handeln und hat keinerlei Erinnerung.

Die Ähnlichkeit mit den neuronalen Netzwerken der AI ist zwar augenfällig, aber bei genauer Betrachtung mit entsprechender Tiefenschärfe offenbart Brokal dagegen das Moment der Kreativität, sprich des Zufalls oder “Eingebung”.


 

II. Brokale Ästhetik – eine Analyse

 

1. Begrifflichkeit und Ursprung

Obwohl „brokal“ kein geläufiger Begriff in den großen kunsttheoretischen Lexika ist, scheint es – gemäß deiner Beschreibung – als ein zeitgenössisches Konzept zu fungieren, das in postmodernen und poststrukturalistischen Diskursen wurzelt. Der Begriff scheint dabei selbst ambivalent: möglicherweise absichtlich uneindeutig, ein Kunstwort, das sich der Definition entzieht – was bereits ein Teil seiner Funktion sein könnte.

 

2. Kernelemente der brokalen Ästhetik

a) Ambivalenz

Brokale Kunst zielt nicht auf Klarheit, sondern auf Mehrdeutigkeit. Sie spielt mit:

visueller Vielschichtigkeit, mehrdeutigen Narrativen, und der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Bedeutungen. Die Rezeption wird nicht geführt, sondern geöffnet – ein Werk kann gleichzeitig politisch und poetisch, kritisch und affirmativ, konkret und abstrakt sein:

- visuelle Vielschichtigkeit – Konstruktion der Form

- mehrdeutige Narrative - der punktförmigen Ich-Bestimmung

(nach schamanistischer Zerrissenheit (siehe Hans Findeisen *1))

- der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Bedeutungen – als holistischer Evidenz

- sowie Rauschen – als Klang

b) Kontingenz

Kontingenz verweist auf die Nicht-Notwendigkeit der Dinge – die Tatsache, dass alles auch anders sein könnte. In brokaler Ästhetik wird dies formal und inhaltlich ausgedrückt durch:

 

- zufällige Kompositionen – aus dem Hintergrundrauschen,

- Brüche in der Logik des Werks – im Gespann der Inutition

- offene Formen – als dynamische Grenzbeschreibungen

 

Das Werk versteht sich nicht als Ausdruck einer Wahrheit, sondern als Möglichkeitsraum.


3. Künstlerische Strategien

Die brokale Ästhetik bedient sich häufig folgender Strategien:

 

- Collage, Montage, Fragmentierung: Das Nebeneinanderstellen heterogener Elemente ohne Auflösung.

- Ironie und Parodie: Nicht zur Entwertung, sondern zur Auflockerung fester Bedeutungen.

- Partizipation und Unvollständigkeit: Das Werk wird erst durch die Rezeption „vollständig“ – und selbst dann bleibt es offen.

- Kontextualität: Bedeutung entsteht nicht im Werk selbst, sondern im Verhältnis zur Situation, zum Raum, zum Diskurs.

- Widersprüchlichkeit und echtzeitliche Synthese als maximale Spannung

Damit ist aber weder Absichtslosigkeit und noch Beliebigkeit gemeint, sondern der außerpersonale Blick einer kollektiven Emergenz.


4. Philosophische Einbettung

Brokale Ästhetik ist tief verwurzelt in den Theorien von:

Jacques Derrida (Dekonstruktion *2):

Bedeutung ist immer verschoben und nie fest.

Jean-François Lyotard (Postmoderne *3):

Misstrauen gegenüber „großen Erzählungen“.

Niklas Luhmann (Systemtheorie *4):

Kunst als ein eigenständiges System, das Komplexität sichtbar macht.

Judith Butler (Performativität *5):

Identität ist kein Sein, sondern ein Werden – auch Kunst „ist“

(*6) Karen Barad (Agentieller Realismus): Identität von Erkenntnis und Sein.


 

5. Relevanz in der Gegenwartskunst

In der aktuellen Kunstwelt ist die brokale Ästhetik hochwirksam, besonders in Bereichen wie:

- Post-Internet-Kunst, wo Bedeutungen in digitalen Räumen zirkulieren und sich ständig verändern, der Rezipient und der Produkteur sind identisch. Das Jetzt ist das Ergebnis.

- intersubjektive Kunst, die Widersprüche im sozialen Raum nicht auflösen will, sondern sichtbar macht.

- Überwindung von Beliebigikeit und Neuortung des gesellschaftlichen Echoraumes.


 

6. Fazit

Die brokale Ästhetik ist keine Stilrichtung, sondern ein epistemisches Modell: Sie fordert Wahrnehmung, Reflexion und Zweifel. Sie ist kritisch, spielerisch und radikal offen – eine Haltung, die künstlerische Praxis als kontingente Konstruktion von Wirklichkeit versteht. In einer Welt, in der eindeutige Wahrheiten zunehmend brüchig wirken, bietet sie einen produktiven Raum für Unsicherheit als Stärke. Temporäre Aussagen sind diskursbestimmend.


 

III. Die brokale Ästhetik und die Unschärferelation

 

1. Heisenbergs Unschärferelation – kurz erklärt

In der Quantenmechanik besagt die Unschärferelation (Werner Heisenberg, 1927), dass bestimmte Eigenschaften eines Teilchens – etwa Ort und Impuls – nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit bestimmt werden können. Je präziser man das eine misst, desto unschärfer wird das andere.


Bedeutung:

Wirklichkeit ist nicht vollständig objektiv messbar oder beobachtbar – Beobachtung beeinflusst das Beobachtete.

 

2. Übertragung auf die brokale Ästhetik

Die brokale Ästhetik greift diesen Gedanken künstlerisch und erkenntnistheoretisch auf:

 

a) Beobachtung als Intervention

Kunstwerke, die als „brokal“ gelten, machen sichtbar, dass jede Betrachtung eine Konstruktion ist – der Akt der Interpretation verändert das Werk.

 

b) Unbestimmtheit als ästhetisches Prinzip

Wie in der Quantenmechanik wird Eindeutigkeit zugunsten einer offenen, fluktuierenden Wahrnehmung aufgegeben. Das Werk bleibt in einem Zustand des „Dazwischen“:

 

Zwischen Abbild und Abstraktion,

zwischen politischer Aussage und poetischem Verweis,

zwischen Konzept und Intuition.

 

c) Keine Fixierung von Bedeutung

Wie der Ort eines Teilchens, ist auch die Bedeutung eines brokalen Werks nie fest, sondern abhängig vom Kontext, vom Moment, vom Betrachter.

 

3. Künstlerische Konsequenzen

Diese Nähe zur Quantenlogik schlägt sich formal in Strategien nieder wie:

 

Verwischung von Genregrenzen (Bild/Text, Objekt/Aktion, Realität/Fiktion),

Instabilität von Materialität (z. B. flüchtige Medien, Performance, digitale Prozesse),

nicht-lineare Erzählformen,

 

interaktive oder emergente Systeme, bei denen das Werk sich erst im Vollzug ergibt.


4. Philosophische Erweiterung

Die Verbindung zur Quantenmechanik macht die brokale Ästhetik auch zu einem epistemologischen Statement: Sie erkennt an, dass Wirklichkeit selbst relational und ungewiss ist – und dass Kunst nicht nur Abbild davon ist, sondern Mitspieler in dieser Unschärfe.

 

Sie steht damit quer zu modernen Konzepten von Kontrolle, Klarheit, Meisterschaft – und öffnet sich stattdessen für:

Zufall, Mehrdeutigkeit, Emergenz,

ein Denken in Wahrscheinlichkeiten statt Sicherheiten,

und die Aufhebung des Subjekt-Objekt-Dualismus.


 

5. Fazit

Die Verbindung der brokalen Ästhetik zur Unschärferelation legt nahe:

Kunst ist kein Instrument zur Wahrheitsfindung im klassischen Sinn – sie ist ein Resonanzraum für Möglichkeitsformen. Wie die Quantenphysik, so zeigt auch die brokale Kunst:

Wirklichkeit ist relational, instabil und abhängig von unseren Perspektiven.


 

IV. Klassisches Regietheater versus  Freie Improvisation?

Improvisation und klassisches Regietheater scheinen auf den ersten Blick Gegensätze zu sein. Das klassische Regietheater betont oft die werkgetreue Inszenierung eines vorgegebenen Textes, während Improvisation auf Spontaneität und dem Moment vertraut. Dennoch gibt es interessante Verbindungen und Überschneidungen:

 

1. Entwicklung von Szenen und Figuren:

Improvisation als Werkzeug in der Probenarbeit: Regisseure im klassischen Theater können Improvisationsübungen nutzen, um Schauspieler*innen zu helfen, ihre Rollen besser zu verstehen, Beziehungen zwischen Figuren zu erkunden und neue Facetten einer Szene zu entdecken. Dies kann zu einer tieferen und authentischeren Darstellung führen, auch wenn die endgültige Inszenierung streng dem Text folgt.

Generieren von Ideen: Improvisationen können im frühen Stadium der Proben dazu dienen, Ideen für Inszenierungselemente, Bühnenbilder oder Kostüme zu entwickeln, die dann in die klassische Inszenierung einfließen können.

 

2. Flexibilität und Spontaneität:

Umgang mit Unerwartetem: Auch im klassischen Theater können unvorhergesehene Ereignisse auftreten (z.B. technische Probleme, Texthänger). Schauspieler*innen mit Improvisationserfahrung sind oft besser darin geschult, flexibel zu reagieren und die Situation kreativ zu meistern, ohne den Fluss der Aufführung zu unterbrechen.

Frische und Lebendigkeit: Ein gewisses Maß an Spontaneität, das durch vorherige Improvisationsarbeit geschult wurde, kann einer klassischen Inszenierung eine zusätzliche Ebene von Lebendigkeit und Frische verleihen, auch wenn die Grundstruktur des Stücks feststeht.

 

3. Interpretation und Ausdruck:

Entdeckung von Subtext: Durch Improvisieren in der Rolle können Schauspieler*innen tiefer in den Subtext eines klassischen Stücks eintauchen und Nuancen entdecken, die im reinen Lesen des Textes möglicherweise verborgen bleiben.

Körperlicher Ausdruck: Improvisationsübungen fördern oft den körperlichen Ausdruck und die nonverbale Kommunikation, was für die Darstellung in klassischen Stücken, die oft eine präzise Körpersprache erfordern, von Vorteil sein kann.

 

4. Historische Bezüge:

Improvisation in historischen Theaterformen: Es ist wichtig zu bedenken, dass Improvisation in vielen historischen Theaterformen, aus denen das klassische Repertoire stammt (z.B. Commedia dell'arte), eine zentrale Rolle spielte. Das Wissen um diese Tradition kann die Herangehensweise an klassische Texte beeinflussen und zu einer lebendigeren Interpretation führen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Improvisation und klassisches Regietheater keine strikten Gegensätze sein müssen. Improvisation kann als wertvolles Werkzeug im Probenprozess dienen, um die Kreativität der Schauspieler*innen zu fördern, ein tieferes Verständnis für das Stück zu entwickeln und die Flexibilität auf der Bühne zu erhöhen. Auch wenn die Endfassung einer klassischen Inszenierung dem vorgegebenen Text treu bleibt, kann die vorherige Auseinandersetzung mit improvisatorischen Methoden die Lebendigkeit und Authentizität der Aufführung bereichern.


 

V. Praxisorientiertes Schauspieltraining mit der Methode des Kunstbegriffs Brokal

Dieses Schauspieltraining richtet sich an Schüler*innen, die Theater als lebendige Kunstform erfahren und sich selbst in einem kreativen Prozess entdecken möchten. Grundlage ist der brokale Kunstbegriff, der auf Ambivalenz, Kontingenz und prozessuale Produktion setzt. Ziel ist nicht die perfekte Inszenierung, sondern das Erleben von Spielräumen, das Erproben von Möglichkeiten und das Bewusstwerden seiner Selbstwirksamkeit als kreative Kraft.

Das Ergebnis, eine Aufführung vor Publikum, ist als Spiegel der eigenen Arbeit von entscheidender Bedeutung für das Gelingen einer Individuation und Schaffung von Selbstwert.

 

Zentrale Elemente des Trainings:

Improvisation und Prozessarbeit: Keine Szene ist anfangs endgültig. Alles bleibt zunächst offen für Entwicklung und Veränderung. Der kreative Moment treibt die Proben voran. Das Ergebnis, oder die Wiederholbarkeit der erarbeiteten Rolle, weißt den Schritt über die persönlichen Grenzen.

Interdisziplinarität: Schauspiel wird mit Musik, Bild, Bewegung und Sprache verbunden. Die Grenzen der Kunstformen werden aufgehoben.

Persönliche Präsenz und Selbstwahrnehmung: Jeder Teilnehmende bringt eigene Impulse ein und lernt, auf andere zu reagieren – im Lichte der festgelegten Rollen, ist jeder Mitgestaltender eines lebendigen Gesamtgeschehens.

 

Umgang mit Scheitern: Fehler sind willkommen. Sie öffnen neue Wege und bringen oft die stärksten Ausdrucksmomente hervor. Die Bereitschaft zum Misslingen und Täuschen bereit den Mut über eigene Grenzen zu gehen, ohne das eigene Schampotenzial zu überspannen.

 

Kollektive Gestaltung: Das Ensemble ist ein prozessuales Kraftfeld. Entscheidungen entstehen aus dem gemeinsamen Tun. Intuition und Prozessoffenheit erzeugen kollektive Emergenz. .

 

Mögliche Themen und Stoffe:

Klassiker der Literatur in zeitgemäßer Neuinterpretation

Eigene Texte und biografische Elemente als Studien über die Rollen.

Gesellschaftliche Themen in performativer Umsetzung

 

Dauer und Formate:

Projekttage, Wochentrainings oder kontinuierliche AGs

Abschlusspräsentationen dienen der Verifikation

Auch als Vorbereitung für Aufführungen oder Prüfungen geeignet


 

(*1) Brokal und Karen Barad:

Eine komparative Entschlüsselung im Kontext ästhetischer Theorie

 

Einleitung

Der Begriff "Brokal" ist ein bewusst leeres, autopoetisches Kunstwort, das seine Bedeutung nur in der akuten Gegenwart entfaltet. Es steht für den Zustand der Ambivalenz, der zwischen Möglichkeit und Verwirklichung oszilliert, vergleichbar einem ästhetischen Higgs-Feld. Dieser Begriff lässt sich produktiv mit den Ideen der Physikerin und feministischen Epistemologin Karen Barad verknüpfen, insbesondere mit ihrem Konzept des agentiellen Realismus.

1. Ontologie der Möglichkeit

Karen Barad kritisiert klassische Subjekt-Objekt-Trennungen und entwickelt eine Ontologie relationaler Prozesse. Auch Brokal ist kein Objekt oder Zustand mit vorab definierter Bedeutung. Es steht für ein reines Potenzial, das sich nur im Augenblick des Handelns und durch ein Medium (Kunst, Sprache, Liebe etc.) manifestiert.

Barad: "Phänomene sind nicht Dinge an sich, sondern dynamische Konfigurationen sich intra-aktierender Relationen."

2. Intra-Aktion und Emergenz

Barads Begriff der Intra-Aktion beschreibt, dass Entitäten nicht vor, sondern erst durch Beziehungen entstehen. Brokal ist ähnlich: Es "existiert" nur im Ereignis, nicht davor oder danach. Es ist emergent.


 

Quellen

 

(*1) Hans Findeisen, Schamanentum: dargestellt am Beispiel der Besessenheitspriester nordeurasiatischer Völker.Kohlhammer, Stuttgart 1957. (Urban-Bücher; 28)

(*2) Jacques Derrida: Grammatologie. Übersetzt von Hans Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1983.

(*3) Jean-Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen Passagen Verlag 1982

(*4) Niklas Luhmann: Soziale Systeme Walter de Gruyter 1984

(*5) Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung

Aus dem Amerikanischen von Frank Born Suhrkamp Verlag

(*6) Karen Barad: Agentieller Realismus Aus dem Englischen von Jürgen Schröder Suhrkamp 2023